„Geschichte erschien mir nie als ferne Vergangenheit, sondern ragte in meine Gegenwart hinein“, sagte Renatus Deckert, Journalist und Autor aus Lüneburg, als er am 8. März in der Aula des Lloyd Gymnasiums Bremerhaven in zwei Durchgängen aus den Tagebüchern von Victor Klemperer liest. Sein Publikum: Schüler*innen der neunten bis 12. Klassen.
Um sein besonderes Interesse an dem Fall Viktor Klemperer (1881-1960) zu erklären, begann er kurz von seiner Heimat Dresden und dem damit einhergehenden, stark ausgeprägten historischen Interesse zu berichten. Die vielen Ruinen hätten ihn immer wieder zu einer Spurensuche angeregt, und nach weiterer Beschäftigung mit der Geschichte in der Schule sei ihm bewusst geworden, dass ihn besonders die Perspektive der Opfer interessiere.
Viktor Klemperer war geborener Jude, konvertierte aber im Laufe seines Lebens zum Christentum. Des Weiteren diente er bereits im Ersten Weltkrieg und war mit einer, laut der ideologischen Terminologie der Nationalsozialisten, „arischen“ Frau verheiratet. Als zwangsemeritierter Professor der Romanistik wollte er ein Geschichtsschreiber der Katastrophe sein und Zeugnis ablegen für die Zeit danach. Und so führte er ein ca. 1500 Seiten umfassendes Tagebuch, dessen Entdeckung den sicheren Tod bedeutet hätte. Sein minutiöser Bericht ist ein einmaliges Dokument über den Alltag der Judenverfolgung.
Worte, so diagnostiziert der jüdische Romanist Victor Klemperer, seien wie „winzige Arsendosen“, und er erfährt diese tödlichen Verbalgaben permanent in Dresden während des Dritten Reiches.
Seine Frau, Eva Klemperer, hielt dabei immer zu ihm, zog mit ihm ins jüdische Ghetto und wich nicht von seiner Seite. So begab sie sich zwar selbst in Gefahr, doch stellte sie auch Mut, Tapferkeit und Liebe unter Beweis.
Die zeitlichen Abschnitte des Tagebuchs erstrecken sich dabei über die Jahre 1933-45 und verdeutlichten wichtige Informationen, wie beispielsweise die Thematik der Konzentrationslager, die durchaus in der Bevölkerung bekannt gewesen war.
Es ist ein Beweis dafür, dass selbst ein isolierter, von der Gesellschaft abgeschnittener Mensch von den Machenschaften und Verbrechen des NS-Regimes gewusst hat und stellt somit das Gegenargument zu der allgemein verwendeten Aussage „Man hätte nichts von den Deportationen etc. gewusst“.
Herr Deckert leitete das Publikum durch die verschiedenen Etappen dieser zwölf Jahre aus Klemperers Perspektive: die Enteignung jeglichen Besitzes, das Einkaufen als jüdische Person, ohne ein Recht auf Schokolade oder sonstige „gute Sachen“, die ständige Angst vor Besuchen von der Gestapo und den Bombenangriff auf Dresden.
Dem Ehepaar gelang in den Wirren der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 die Flucht, das Kriegsende erlebte es in Bayern. Als sich Victor Klemperer Mitte Mai dort ein Beil von einem Nachbarn zum Holzspalten auslieh und ein ausrangiertes Schild mit der Aufschrift „Die Juden sind unser Unglück“ entdeckte, war verständlicherweise seine Lust unbändig, dieses Schild zu zerhacken.
Nach einer kurzen Pause, um „die Eindrücke sacken zu lassen“ gab Herr Deckert den Schüler*innen ausreichend Zeit, ihre zahlreichen, klugen und interessierten Fragen stellen zu können, was die insgesamt 90minütige Veranstaltung in angemessener Weise abrundete.
Wir danken Herrn Deckert herzlich für diese klug gewählten Passagen aus den Tagebüchern Klemperers, die er immer wieder mit weiteren Hintergrundinformationen einordnete und können diese Lesung absolut empfehlen.
Weitere Informationen: https://www.renatus-deckert.de/victor-klemperer.html